Demokratische Sicherheit
«Mehr Demokratie wagen.» Mit diesen Worten überschrieb der damalige sozialdemokratische Bundeskanzler Deutschlands, Willy Brandt, am 28. Oktober 1969 seine Regierungserklärung und traf damit den Nerv der Zeit. Seine sozialliberale Koalition löste einen gesellschaftlichen Aufbruch aus, überführte in Gesetzesreformen das Menschenbild vom Untertanen zu jenem einer/eines mündigen Bürger:in, senkte das Wahlalter, rückte Bildung ins Zentrum der Politik und reformierte die Bundeswehr. Der Anspruch, das damalige Nachkriegsdeutschland in eine moderne Demokratie zu verwandeln, begeisterte Millionen von Menschen und setzte zahlreiche Postulate der 68er-Bewegung in konkrete Politik um. Vieles der damaligen Modernisierung gilt heute in ganz Europa als Selbstverständlichkeit – und ist dennoch so gefährdet wie nie. Heute gewinnen rechtsextreme, autoritäre Kräfte in ganz Europa an Zustimmung und richten sich dabei frontal gegen Staatlichkeiten, welche die Gleichheit und Freiheit aller Menschen zur Grundlage haben. Staaten, die Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit und eben Demokratie hochhalten. Gleichzeitig sind unsere Demokratien auch durch Angriffe von aussen, durch die Destabilisierung des Vertrauens in staatliches Handeln über entfesselte Algorithmen mächtiger Tech-Konzerne, gezielte Desinformation, Spionage und Cyberangriffe, Angriffen ausgesetzt. Die Demokratie ist in Gefahr. Weil sich in unsicheren Zeiten das Vertrauen in sie leichter untergraben lässt. Weil in einer gefühlten Krise ein starker Mann plötzlich wieder attraktiv erscheint und Sündenböcke hermüssen, die aus dem Entscheidungsprozess ausgeschlossen gehören.
Vor diesem Hintergrund hat Alain Berset in seiner Funktion als Generalsekretär des Europarats den «Neuen Demokratischen Pakt für Europa» lanciert. Der Pakt soll einen gemeinsamen und inklusiven Prozess anstossen, um die Demokratie in den 46 Mitgliedsstaaten des Europarats zu verteidigen, zu stärken und zu erneuern. Grenzüberschreitend soll nach Wegen gesucht werden, wie die Demokratie in unserer Zeit zukunftsfähig gestaltet werden kann. Und der Pakt bringt ein fast vergessenes Konzept wieder aufs Tapet: die demokratische Sicherheit.
Die Idee, dass die Grundlage der Sicherheit in Europa die Stabilität der Demokratie an sich ist, war nach dem Ende des Kalten Krieges ein Leitmotiv der europäischen Einigung. Informierte Bürger:innen, funktionierende Institutionen, transparente demokratische Prozesse und ein respektvoller Wettbewerb der Ideen sind die Grundlage resilienter, widerstandsfähiger Gesellschaften im Hinblick auf Herausforderungen und Gefahren. Diese Erkenntnis hat an ihrer Richtigkeit nichts verloren. Und trotzdem wird in der öffentlichen Debatte fast ausschliesslich über militärische Sicherheit gestritten. Diese Verengung können wir uns angesichts der realen Bedrohungen nicht leisten. Demokratie allein schafft keine Sicherheit, aber ohne starke Demokratie gibt es keine Sicherheit.
Und: Demokratie ist niemals ein Zustand. Sie ist ein ständiger Prozess. Bleibt die Demokratie stehen, stirbt sie. Genau weil die Demokratie aktuell so stark unter Druck steht wie nie seit ihrer beispiellosen Blüte nach dem Kalten Krieg, muss das Motto wieder lauten: Mehr Demokratie wagen!
Dieser Beitrag erschien am 10.10.2025 zuerst im «P.S.».