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Die Schweiz, ein Elsternest?

Liebe Kolleginnen und Kollegen, liebe Genossinnen und Genossen, liebe Anwesende

Nach einem harten Winter hat der Frühling begonnen. So sass ich kürzlich mit Freunden draussen in Zürich bei einem Bier. Vor der Bar stand ein Baum und darauf sahen wir ein Nest. Und wir fragten uns, ob es ein Elternest sei. Da alle ornithologisch schlecht bewandert, waren wir uns nicht sicher. Aber der Gedanke an dieses Elsternest führte mich zur Frage, ob die Schweiz ein Elsternest sei. Ob die Schweizerinnen und Schweizer eine Elster sind, die sich den Reichtum aus der ganzen Welt zusammenrauben, um ihr Nest zu füllen. Warum?

Mit Ausbruch der neoliberalen Wende in den 1970-Jahre sind die Unternehmensgewinne und Kapitalerträge explodiert. Gleichzeitig fehlen der öffentlichen Hand zunehmend Gelder für Investitionen in Infrastruktur und Realwirtschaft. Die Schweiz hat zu dieser Entwicklung kräftig beigetragen. 1992 wurden in der Schweiz noch Unternehmensgewinne im Umfang von 40 Milliarden Franken versteuert. 2010 waren es 320 Milliarden. Mit tiefen Unternehmenssteuern hat die Schweiz Gewinne und Kapital in die Schweiz gelockt und damit andere Regionen und Völker um ihren Reichtum gebracht. Gemäss Schätzungen der OECD entgehen den Entwicklungsländern jährlich 200 Milliarden Dollar die ihnen gehören, die ihnen aber für ihre Entwicklung fehlen.

Was heisst das konkret?

Der Tschad ist ein reiches Land. Der Tschad ist reich an Rohstoffen. Aber bei der Bevölkerung des Tschads kommt davon so gut wie nichts an. Die meisten Tschaderinnen und Tschader sind Bauern. Sie leben auf dem Land fernab der Hauptstadt N-Djamena. Sie bebauen ihr eigenes Land. 60 Prozent der Frauen können weder lesen noch schreiben. Mädchenbeschneidungen gehört zum Alltag, und die meisten geben 60-80 Prozent ihres Einkommens für Lebensmittel aus. Erdöl, das den Tschad zu einem reichen Land macht, wird exklusiv vom Schweizer Konzern Glencore gehandelt.

Glencore bezahlt der tschadischen Regierung für das Erdöl nicht nur einen extrem günstigen Preis, Glencore bezahlt im Tschad auch keinen einzigen Dollar Steuern. 2018 durchlebt der Tschad ein massives Abbauprogramm auf Kosten von Bildung, Spitälern und Infrastruktur.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, vor 100 Jahren gingen in der ganzen Schweiz 250’000 Menschen für den Generalstreik auf die Strasse. Im Aufruf des Oltner Aktionskommitees hiess es:

„Lange genug habt ihr euch von der herrschenden Klasse narren und mit Bettelbrötchen abspeisen lassen. Nun muss die Langmut ein Ende nehmen, jetzt habt ihr entschlossen (…) für eure Interessen einzustehen.“

1918, vor genau 100 Jahren, haben die Menschen in der Schweiz erkannt, dass die Ungleichheit auf dieser Welt ein unterträgliches Ausmass angenommen hat. Dass Krieg, Unfreiheit und Armut kein Zustand sind. Und dass sie kein Zustand sind, der vom Himmel gefallen ist. Sie haben gemerkt, dass wenn sie wollen, sie etwas an diesen Zuständen ändern können. Und heute, liebe Kolleginnen und Kollegen. Was ist heute?

Noch immer hungern auf diesem Planeten fast eine Milliarde Menschen, noch immer herrscht Krieg, vor dem so viele Menschen flüchten müssen, wie nie mehr seit dem Zweiten Weltkrieg. Wir sind konfrontiert mit einer Umweltkatastrophe, wie sie unsere Zivilisation noch nie gekannt hat. Und noch immer sind wir nicht alle gleich. Noch immer sind wir nicht gleich, ob Mann oder Frau, nicht gleich, je nach Hautfarbe, nicht gleich, je nachdem, wen wir lieben. Und nicht gleich, wo und in welchem Land wir geboren wurden.

Ist die Schweiz ein Elsternest?

Wir alle sind durch Zufall und Glück in die Schweiz oder sogar in den reichen Kanton Schwyz geboren worden. Wir hatten Glück. Wir leben in einem reichen und mächtigen Land. Als Spiderman sich seiner neu erlangten Fähigkeit als Superheld bewusst wurde, sagte ihm sein Onkel: „Auf grosse Macht folgt grosse Verantwortung.“ Und so ist es mit der Schweiz. Die Schweiz ist ökonomisch gesehen eine Grossmacht. Wir sind der grösste Bankenplatz und der grösste Rohstoffhandelsplatz der Welt. Und wir sind offensichtlich ein Steuerparadies. Die Schweiz hat Macht. Aber wie Spiederman können wird uns diese Macht zu Nutze und damit die Welt ein bisschen gerechter machen. So wie es die Beteiligten des Landesstreiks 1918 getan haben. Und so wie wir es uns einmal im Jahr am 1. Mai auf der ganzen Welt und in der Schweiz vornehmen und Kraft tanken für den weiteren Kampf.

Die Welt ein bisschen gerechter zu machen, heisst das zu tun, was ihr Schwyzerinnen und Schwyzer 2014 getan habt, als ihr in einer Volksabstimmung beschlossen habt, hohe Einkommen und Vermögen höher zu besteuern. Und es heisst, dass zu tun, was die Schweizerinnen und Schweizer 2017 getan haben, als sie Nein zur Unternehmenssteuerreform III gesagt haben – und damit zu neuen Steuerprivilegien für Grosskonzerne. Es heisst, die Ungleichheit zwischen unten und oben und zwischen den Regionen zu verkleinern, anstatt sie zu vergrössern. Die Schweiz ist ein reiches Land und eine Demokratie. Und in einer Demokratie haben wir alle Mittel in der Hand, um das zu tun. Um zu sagen, was ist und daraus abgeleitet politisch Einfluss zu nehmen, so dass sich die Dinge ändern. Wir sind als Schweizerinnen und Schweizer verantwortlich für eine wirtschaftliche Grossmacht – für ein prall gefülltes Elsternest voller Schätze. Und mit diesen Schätzen können wir einen enormen Beitrag zu einer gerechteren Entwicklung der Welt leisten.

In Asien ist die Elster ein Glückssymbol. Sorgen wir gemeinsam dafür, dass wir wie Spiderman die Bösewichte vertreiben, die Schweiz damit gerechter und unser Elsternest zu einem Glücksbringer für die Welt machen. Ich danke euch. Es lebe der 1. Mai!