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Europa wird links – oder es wird nicht

Im Vorfeld der Wahlen fürs europäische Parlament Ende Woche stand eine These ziemlich unwidersprochen im Raum: ein Rechtsrutsch steht bevor. Ein Blick auf die vergangen nationalen Wahlen in den westeuropäischen Staaten zeigt ein etwas differenzierteres Bild. Übers Ganze gesehen gewinnen in den «alten» EU-Ländern die radikal linken und die extrem rechten Parteien.

Verliererinnen sind die Mitte-Links- (SPD und Co.) sowie die Mitte-Rechts-Parteien (CDU und Co.). Bei den osteuropäischen, neuen EU-Staaten ist eine Kategorisierung in konservativ, sozialdemokratisch und liberal oft schwierig. Dies aufgrund der verhältnismässig jungen Demokratien und der damit verbundenen, weit verbreiteten mangelnden Verwurzelung in rechtsstaatlichen Prinzipien – etwa bei der Fidesz in Ungarn, PiS in Polen oder der PSD in Rumänien.

In den skandinavischen Ländern besteht der Trend zur Polarisierung, mit einem leichten Trend nach rechts, ebenso wie in den Benelux-Staaten und in Deutschland. In den südeuropäischen Ländern (Spanien, Portugal, Griechenland) spitzt sich die Polarisierung ebenfalls zu – hier allerdings mit einem Trend nach links. Dabei gibt es aber zwei grosse und wichtige Ausnahmen: Frankreich und Italien.

In beiden Ländern ereignete sich bei den letzten Wahlen eine regelrechte Implosion des traditionellen Parteien-Systems. Daraus gingen neue, populistische Kräfte gestärkt hervor. Sie sind nur schwer einzuordnen.

Wie ist dies nun zu interpretieren? Erstens: Die Wählerinnen und Wähler haben genug von den traditionellen Parteien. Konservative, Sozialdemokraten und Liberale, die die EU seit ihrer Gründung dominiert haben, verlieren tendenziell.

Zweitens: Die Menschen wünschen sich Veränderung und wählen Parteien, die einen Wandel versprechen. Entweder klar links oder klar rechts. Oder sie wählen neue Parteien, deren Programm schwammig ist, die sich zunächst aber noch keine Fehler erlaubt haben.

So lassen sich auch die Siege der Fünf-Sterne-Bewegung in Italien und Macrons La République en Marche erklären. Insbesondere mit Blick auf die teilweise linke Rhetorik der beiden Parteien im Wahlkampf.

Die zurückliegenden Wahlen, die Umfragen für die EU-Wahlen, die ebenfalls eine Polarisierung voraussagen, sowie die immer verbreiteteren Proteste in vielen Ländern Europas (Klimastreiks, Gilets Jaune, anti-faschistische wie auch xenophobe Mobilisierung) lassen eigentlich nur einen Schluss zu: die Menschen haben genug.

Und zwar haben sie genug von der aktuellen Politik der kleinen Schritte. Genug von Demokratie-Mängeln.Genug von sozialer Ungleichheit. Bei diesen Wahlen werden sich die Kräfte der alten Ordnung noch einmal durchsetzen. Überdenken sie sich aber nicht grundsätzlich, geht die Polarisierung weiter.

Und wer dann gewinnt, ist unklar: ein Europa der Abschottung und des Autoritarismus oder ein Europa der Solidarität und Offenheit. Für die Sozialdemokratie bietet diese Ausgangslage aber auch eine grosse Chance für Veränderung und Wahlsiege. Dann, wenn sie eine klar linke Politik macht. Das zeigen die Erfolge in Spanien, Portugal, Luxemburg, dem Vereinigten Königreich und jüngst in Schweizer Kantonen.

Stellt die Linke die soziale Frage ins Zentrum ihrer Politik, gewinnt sie. Ob im Kampf für höhere Prämienverbilligungen im Kanton Luzern, bessere Mindestlöhne in Spanien oder einen Ausbau des Service public in Grossbritannien. Der Blair-Schröder-Kurs ist definitiv gescheitert.

Wer Europa vor den Nationalisten retten will, muss es gerechter und sozialer machen. Mehr soziale Rechte für jeden und jede Einzelne auf dem europäischen Kontinent. Das ist der Kern linker Europa-Politik. Denn nur ein starkes Europa kann der Macht der Grosskonzerne diese Zugeständnisse abringen.

Ohne mehr soziale Gerechtigkeit, wird die europäische Integration scheitern.

Dieser Text erschien am 24. Mai 2019 zuerst im „Tages-Anzeiger“.