Gegen die historische Gerechtigkeit
Am 22. November 2023 kurz vor der Mittagspause beschloss die Uno-Generalversammlung im grossen Plenarsaal des Uno-Hauptsitzes in New York eine steuerpolitische Revolution. Fast ein Jahr ist es her, seit die Afrika-Gruppe, die Vereinigung aller 57 Staaten des Kontinents, zahlreicher NGO und progressiver Ökonom:innen ihren grossen Erfolg feierten. 125 Staaten stimmten für die Eckpunkte zu einer Uno-Steuerkonvention, 48 dagegen. Für die Reform stimmten fast alle Staaten des Globalen Südens und Schwellenländer aus Lateinamerika, Asien und Afrika. Gegen die Reform die reichen Staaten des Nordens, darunter auch die Schweiz. Angesichts der globalen Krise des Multilateralismus und der sich vertiefenden weltweiten Ungleichheit kann man diesen Prozess in seiner Bedeutung gar nicht überschätzen.
Als die Vereinten Nationen 1945 in San Francisco auf den Trümmern des Zweiten Weltkrieges gegründet wurden, hatten sie sich hauptsächlich zwei Ziele gesetzt: Frieden und Sicherheit nachhaltig zu sichern sowie den Kolonialismus zu überwinden. Dekolonisierungsinstitutionen der Uno gehören rückblickend zu den erfolgreichsten transnationalen Institutionen aller Zeiten. Innert 40 Jahren konnten fast alle kolonisierten Staaten in die Unabhängigkeit entlassen werden. Und trotzdem blieb die Dekolonisierung unvollendet. Sie setzte sich fort in globalen Regeln, welche die Privilegien der ehemaligen Kolonialmächte zementierten. Über die Bretton-Woods-Institutionen wurde den Ländern des Globalen Südens ein neoliberales Wirtschaftsmodell aufgezwungen, über die Welthandelsorganisation die lokale Landwirtschaft zerstört, und grosse Rohstoffkonzerne stellten sicher, dass die Gewinne aus Bodenschätzen weiterhin in Europa und den USA bleiben. Zentraler Teil dieser ungerechten Wirtschaftsweltordnung ist und bleibt die Steuerpolitik. Im Klub der reichen Staaten, der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit (OECD) mit Sitz in Paris, wird entschieden, wie die Steuerpolitik auf der Welt reguliert wird. Oder vielmehr: Wie sie nicht reguliert wird. Trotz gewisser Reformen fliessen jedes Jahr Milliarden von Dollar von Süd nach Nord, weil Gewinne nicht dort besteuert werden, wo sie anfallen, sondern am Hauptsitz der Grosskonzerne – also insbesondere in der Schweiz. Ein Minenarbeiter im Kongo und seine Familie müssen also nicht nur mit miesen Arbeitsbedingungen, Umweltverschmutzung und tiefen Löhnen klarkommen, sie haben auch nichts von den Steuereinnahmen aus dem geschürften Gold. Die Gewinne werden in der Schweiz am Luganer oder am Genfersee versteuert. Der Kongo bleibt so arm, dass Ernährung und Bildung für viele nicht garantiert sind.
Mit dem Entscheid vom letzten Jahr hat die Staatengemeinschaft nun bis 2027 Zeit, eine Uno-Steuerkonvention auszuhandeln. Bundesrätin Keller-Sutter hat bereits erbitterten Widerstand dagegen angekündigt. Die zuständigen Kommissionen des Parlaments dürften ihr in diesen Tagen in globo folgen. Es gehe ums Erfolgsmodell Schweiz, werden sie sagen und dabei an ihre Geldgeber denken. Und daran, wie stark sie die Entwicklungszusammenarbeit bisher gekürzt haben. Vielleicht haben einige ein schlechtes Gewissen und wissen: Zu stoppen ist dieser Prozess nicht mehr. Historische Gerechtigkeit rückt langsam näher.
Dieser Beitrag erschien am 02.11.2024 zuerst im «P.S.».