Schuld, Sühne und Prekarität
Ich bin seit etwa 15 Jahren Vegetarier. Damals, als Teenager, habe ich ein Buch über die ökologischen Auswirkungen der Fleischproduktion gelesen und seither esse ich mit wenigen Ausnahmen kein Fleisch. Dafür fliege ich viel. Als Aussenpolitiker, aber manchmal auch als Privatperson. Darf ich das? Wie verhält man sich bewusst und korrekt? Diese Fragen treiben die Linke seit Jahren um. Und sie führen zu nichts.
Vorletzte Woche durfte ich im Rahmen einer Veranstaltung des Denknetzes mit der bulgarischen Politologin Albena Azmanova über ihr neuestes Buch «Capitalism on Edge» diskutieren. Darin räumt sie unzimperlich mit lieb gewordenen linken Dogmen auf. Ihre Kernthese: Wir befinden uns in einem neuen Stadium der kapitalistischen Weltherrschaft, dem Prekariatskapitalismus. Im Prekariatskapitalismus erzeugt die sich in fast allen Lebensbereichen festgesetzte Logik der kompetitiven Profitmaximierung zu einem ständigen Gefühl der Unsicherheit. Jeder und jede muss ständig überlegen, wie er oder sie über die Runden kommt, weiterkommt, nicht stehen bleibt. Und zwar individuell. Was unser Wirtschaftssystem zu einem ziemlich schlechten Deal fürs Wohlbefinden von fast allen von uns macht und erst noch die Umwelt zerstört. Wenn wir Azmanovas Analyse weiterdenken, hat sie eine weitere Konsequenz. Die Prekarität führt zu Schuld. Schuld gegenüber sich selber, weil man seinen – scheinbar eigenen – Ansprüchen nicht genügt. Aber auch Schuld gegenüber anderen. Wer in einem solchen System auch noch das moralisch Richtige tun will, kommt in Teufels Küche. Erstens ist es unmöglich, die Strukturen des Wettbewerbs in der Multioptionsgesellschaft zu durchbrechen. Die individuelle Sühne des Schuldgefühls hat global eine winzige und nicht einmal langfristige oder systemische Wirkung. Zweitens muss man sich das angeblich richtige Verhalten erst einmal leisten können. Das ist es wohl, was Sahra Wagenknecht polemisch mit «Lifestyle-Linken» meint. Und drittens spaltet es all jene, die eigentlich in Unsicherheit leben. A la: «Warum kaufst du deine Kleider nicht Fair Trade? Dir sind wohl die Näherinnen in Bangladesh egal!»
Ich halte eine Politik, die darauf setzt, dass alle selber schauen müssen, wie sie ihren Konsum gerechter gestalten, für unattraktiv und politisch falsch. Sie wird uns zwar Mehrheitlich von Rechts untergeschoben. Und trotzdem hat sie einen wahren Kern. Diese Logik hält uns einsam in der Logik der Prekarität gefangen. Sie lässt die wahren Verantwortlichen, jene, die die wettbewerblichen Regeln setzen, Staaten und Konzerne, ungeschoren davon kommen. Und es ist falsch so zu tun, als würde die Welt besser, wenn wir uns als Einzelne einschränken. Die grossen Krisen unserer Zeit lösen wir politisch. Und das kann auch ganz viel Spass machen. Im Hier und Jetzt ein gutes Leben voller Freude und Liebe zu führen und gleichzeitig politisch für eine andere Welt zu kämpfen, ist kein Widerspruch.
Dieser Beitrag erschien am 12.11.21 zuerst im «P.S.».