Siamo tutti fratelli e sorelle
«Tutti fratelli» – «Wir sind alle Brüder», schrieb Henry Dunant in seinem 1862 veröffentlichten Buch «Eine Erinnerung an Solferino», in der er über die Schrecken der Entscheidungsschlacht zwischen dem Kaisertum Österreich und dem Königreich Sardinien in Norditalien berichtete. Der Schweizer Dunant machte darin – geprägt von den Bildern von 40 000 gefallener und verwundeter Soldaten – zwei revolutionäre Vorschläge: Die Gründung freiwilliger Hilfsgesellschaften zur Pflege verwundeter Soldaten, die ein Jahr später mit der Gründung des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK) umgesetzt wurde. Und den Abschluss internationaler Abkommen zum Schutz verwundeter Soldaten und der Helfenden. Auf seine Idee geht die Schaffung der bis heute geltenden vier Genfer Konventionen nach dem Zweiten Weltkrieg als Kern des humanitären Völkerrechts zurück. Sie schützen Personen, die sich nicht oder nicht mehr an den Kampfhandlungen beteiligen. Artikel 1 aller vier Genfer Konventionen hat denselben Wortlaut: «Die Hohen Vertragsparteien verpflichten sich, das vorliegende Abkommen unter allen Umständen einzuhalten und seine Einhaltung durchzusetzen.» Auch dieser Satz ist an sich revolutionär: Alle Staaten sind nicht nur verpflichtet, das Kriegsvölkerrecht einzuhalten, sondern auch es durchzusetzen, wenn es von kriegsführenden Parteien verletzt wird. Das IKRK schreibt in einem offiziellen Kommentar zu Artikel 1 der Genfer Konventionen, dass Drittstaaten «aktiv darauf hinwirken» müssten, «dass Verstösse gegen die Übereinkommen abgestellt werden und dass eine Konfliktpartei, die gegen die Übereinkommen verstösst, zu einer Haltung der Achtung der Übereinkommen zurückkehrt, insbesondere indem sie ihren Einfluss auf diese Partei geltend machen.» Henry Dunant und seine revolutionären Ideen zum Schutz der Zivilbevölkerung in Kriegssituationen bilden die Grundlage der viel beschworenen humanitären Tradition der Schweiz. Ohne Dunant gäbe es kein IKRK, kein internationales Genf und wäre die Schweiz nicht Depositarstaat der Genfer Konventionen. Die Mehrheit von Bundesrat und Parlament scheinen dies vergessen zu haben. Anders ist das ohrenbetäubende Schweigen angesichts der durch nichts zu entschuldigenden Völker- und Menschenrechtsverbrechen Israels im Gazastreifen nicht zu erklären. Weit über 50 000 Zivilpersonen haben seit Ausbruch des Gaza-Krieges bereits ihr Leben verloren. Seit dem 2. März 2025 verbietet Israel jegliche Einfuhr von Waren, Versorgungsgütern und humanitärer Hilfe nach Gaza. Während in Gaza der Hunger grassiert und Netanyahu vom Internationalen Strafgerichtshof per Haftbefehl gesucht wird, startete Israel diese Woche eine Militäroperation zur dauerhaften Besatzung des Landstrichs und zur Vertreibung der palästinensischen Bevölkerung. Kein Wort dazu von Seiten der offiziellen Schweiz. Während die EU gewalttätige israelische Siedler sanktioniert, den Druck auf Netanyahus verbrecherische Regierung zaghaft erhöht und selbst der konservative deutsche Bundeskanzler Israels Politik unumwunden kritisiert, hat der Bundesrat sein Rückgrat verloren. Wenn Henry Dunant wüsste, wie seine Nachkommen mit seinem Erben verfahren, würde er sich im Grab umdrehen und uns mahnen: «Wir sind alle Brüder und Schwestern!»
Dieser Beitrag erschien am 09.05.2025 zuerst im «P.S.».