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Spaltung

Man müsse den SkeptikerInnen zuhören, aufeinander zugehen, die Spaltung der Gesellschaft überwinden, heisst es in Presse und Politik. Das gegenseitige Verständnis schwinde, die Unterschiede würden grösser – eine Gefahr für die Demokratie. Nun, grundsätzlich völlig einverstanden. Interessant ist nur, dass diese Debatte nicht auf Grund der steigenden Vermögensungleichheit geführt wird, die in der Schweiz ein Rekordniveau erreicht hat und unsere Gesellschaft zu zerreissen droht. Sie wird auch nicht im Bezug auf das Auseinanderklaffen zwischen der Notwendigkeit von Massnahmen gegen die Klima-Krise und der eklatanten Passivität von Unternehmen und Staat geführt. Sondern wegen ein paar radikalisierten Pandemie-EgoistInnen. Dass ist kein Zufall. Und trotzdem absurd. 

Lebenswelten und Werte waren in unserer Gesellschaft schon immer sehr unterschiedlich. Unser Zusammenleben ist geprägt von Kämpfen. Und war es auch schon immer. Warum die Demokratie jetzt plötzlich auf Grund von ein paar radikalen GegenerInnen der Anti-Corona-Massnahmen zu Grunde gehen soll, nachdem viele Forderungen anderer Bewegungen jahrelang radikal ignoriert wurden, leuchtet mir nicht ein. Klar: Durch die Pandemie wurden zusätzliche Menschen politisiert – in die eine oder andere Richtung. Und neue Fragestellungen haben die Parteien herausgefordert, sich neu zu positionieren. Aber so wahnsinnig neu ist das auch nicht.

Schon Bourdieu wusste, dass unser Habitus, also unser Empfinden, unser Auftreten und unsere Präferenzen, massgeblich von der Teilhabe an gesellschaftlichen Gütern abhängig ist. Folglich haben gesellschaftliche Dynamiken immer eine soziale Grundlage. Wollen wir verstehen, warum Menschen so denken und handeln, wie sie es tun, müssen wir auch die soziale Gegebenheiten verstehen. 

Nun ist es leider so, dass die selben, die heute von «aufeinander zugehen» sprechen, dies in den letzten Jahren konsequent verweigert haben. Warum AlbanerInnen den Schweizer Behörden eher misstrauen als SchweizerInnen? Woher dieser privilegiert-egoistische Freiheitsbegriff kommt? Warum Rechtsextreme plötzlich so gut organisiert sind? Woher das verbreitete Unverständnis für die Wissenschaft kommt? All das liesse sich journalistisch spannend einordnen und debattieren. Aber dafür bräuchte man halt ein Minimum an Interesse an den sozialen Realitäten in diesem Land. Und nicht nur an Schaudern und Clickbaiting.

Klar, auch mir macht der schwindende Konsens zum Umgang mit Corona Sorgen. Aber es gibt andere Konfliktlinien, die für den gesellschaftlichen Zusammenhalt weit wichtiger sind. Wenn wir die Spaltung der Gesellschaft überwinden wollen, hilft es nicht, wenn wir jetzt wissenschaftliche Fakten zur Diskussion stellen. Dann müssen wir das Gemeinwesen, die Solidarität und den Gemeinsinn der Menschen langfristig stärken und aufhören, Menschen aus der Gemeinschaft auszuschliessen oder Parallelwelten zu befördern. Spaltung überwindet man durch das Einfordern von Teilhabe, nicht durch Toleranz.

Dieser Beitrag erschien am 17.09.21 zuerst im «P.S.».