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Unsere starke schwache Demokratie

Was für ein emotionaler Moment: Am Montag kam das Parlament zur ausserordentlichen «Corona»-Session zusammen. Nach einigen Wochen der Untätigkeit und einigen Wochen intensiver Kommissionsarbeit trafen sich National- und Ständerat in der BernExpo zur politischen Bewältigung der Krise. «Eines kann und darf das Virus nicht beschädigen: unsere starke Demokratie», erklärte Bundespräsidentin Simonetta Sommaruga in ihrer einleitenden Rede. Die eidgenössischen Räte treffen sich mitten in der grössten Krise seit dem Zweiten Weltkrieg, um Lösungen für die drängendsten Probleme unserer Zeit zu finden – eigeleitet wird das Ganze von einer staatstragenden Krisenrede unserer SP-Staatsfrau. Ich meine das ganz unironisch: Die Verantwortung war in diesem Moment im riesigen Saal und auch bei mir spürbar. Und die Debatten der Räte in den folgenden Tagen waren auch schon fruchtloser. Unsere Demokratie lebt! Aber so stark wie wir glauben, ist sie nicht.

Über die Unfähigkeit unseres Pseudo-Miliz-Parlaments seine Rolle in der Krise zu finden, wurde bereits leidlich berichtet. Über die Krise demokratischer Grundrechte im bundesrätlichen Notrecht ebenso. Beides sind keine Ruhmesblätter der Demokratiegeschichte. Das viel grundlegendere Problem, das COVID-19 aber offengelegt hat, ist die Machtlosigkeit all jener, die unsere Gesellschaft am Laufen halten. Machtlosigkeit? Demokratie ist ein System des Machtausgleichs. Nicht ein paar wenige Adelige bestimmen, sondern alle in freien und fairen Wahlen. So die historische Begründung. Nur wird jetzt deutlich wie selten: Die Demokratie ist zu beschränkt, um Risiken, Wohlstand und Zeit gerecht zu verteilen. Konzerne entscheiden, nicht Völker.  Viele Menschen, die mit ihrer Arbeit auch in der Krise Wert schaffen, sind in dem Moment, in dem ihr diese Zeilen lest, stimmlos, schlecht repräsentiert, machtlos. Dabei haben der Bundesrat und diese Woche auch das Parlament gezeigt, was ein handlungsfähiger Staat kann, wenn er muss und will. Aber ebenso hat diese Pandemie gezeigt, wie undemokratisch unser Wirtschaftssystem ist. Im besten Fall wurde für die von den Corona-Massnahmen besonders betroffenen Menschen Lösungen gefunden. Nicht mit ihnen. Gar nicht zu sprechen von den unzähligen, meist weiblichen Angestellten in schlecht bezahlten Branchen ohne Schweizer Pass. Sie alle können nicht über die Geschicke unseres Landes entscheiden. Weder in der Politik, noch in der Wirtschaft.

Simonetta Sommaruga hat Recht: Unsere Institutionen sind stark und überleben auch diese Krise. Aber das Problem ist: Unsere Institutionen sind stark und lassen Veränderungen für eine bessere Verteilung von Macht und Wohlstand nur sehr widerwillig zu. Dieses Problem wird uns über Corona hinaus erhalten bleiben.

«Rote Gedanken», erschienen am 8. Mai 2020 im «P.S.»