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Warum 2023 vieles besser werden könnte

Das zurückliegende Jahr 2022 wird als Katastrophenjahr in die Geschichte eingehen. Nachdem der schlimmste Teil der Corona-Pandemie überwunden war, wurden Europa und die Welt mit dem fürchterlichen Angriffskrieg gegen die Ukraine und seinen wirtschaftlichen und humanitären Folgen konfrontiert. Von einer «Zeitenwende» sprach der deutsche SPD-Bundeskanzler Olaf Scholz. Aber was wird 2023 bringen? Niemand weiss es, aber es gibt aus sozialdemokratischer Sicht durchaus Tendenzen, die hoffen lassen.

«Nichts geht, aber… : 2023, das Jahr, das uns retten kann» lautet der Titel des neuesten Buches des französischen Wirtschaftsjournalisten François Lenglet (Französisch: «Rien ne va, mais… : 2023, l’année qui peut nous sauver», erschienen bei Plon). Darin argumentiert er, dass die Krisen, die wir heute durchleben, nur die Zuckungen einer sterbenden Welt seien. Lenglet ist überzeugt, dass wir einem Modellwechsel beiwohnen, wie er nur ungefähr einmal in jedem Jahrhundert vorkommt. Nach vierzig Jahren Neoliberalismus erleben wir die Rückkehr von Protektionismus und Staat in der Wirtschaft. Die Welt, die gerade sterbe, führe zwar zu schmerzhaften Verwerfungen, habe in den letzten Jahren aber derart viele Fehlfunktionen geschaffen, dass man ihren Untergang nur schwer bedauern könne. «Wir leben», erklärt Lenglet, «in einer Zwischenzeit.» Die Rückkehr des Krieges nach Europa, die Krise von internationalen Institutionen und Diplomatie, der Ausbruch globaler Pandemien, allen voran Covid, die Inflation, die Anfälligkeit des Wachstums, die Rationierung von Strom am Horizont und natürlich die sich verschärfende Klimakrise seien Ausdruck fundamentaler Veränderungen im kapitalistischen Modell, wie es die letzten 40 Jahre Bestand hatte.

Tatsächlich haben die Krisen der letzten Jahre die Politik weltweit massiv verändert. In der Corona-Pandemie nahm die Europäische Union zum ersten Mal gemeinsam Schulden im Umfang von 750 Milliarden Franken auf. Damit wurde die Grundlage für ein von den Mitgliedsstaaten unabhängiges Budget geschaffen und die Sozialstaaten wurden solidarisch abgesichert. Konfrontiert mit Lieferkettenschwierigkeiten und der drohenden Gasmangellage legte die EU die Grundlage für eine neue, gemeinsame Industrie- und Energiepolitik, die Europa unabhängiger machen wird. Die USA beschlossen in diesem Jahr, wie zuvor die EU, ein Milliarden-Paket für den Ausbau erneuerbarer Energien und sprachen sich mit dem «Chips Act» dafür aus, ihre Souveränität in der IT-Industrie massiv zu stärken. Ebenfalls in diesem Jahr wurde die OECD-Mindeststeuer besiegelt, wodurch global erstmals Mindeststandards für die Konzernbesteuerung geschaffen werden. Die neoliberalen Dogmen von Privatisierung, Deregulierung, Liberalisierung scheinen den Maximen von politischer Planung, Industriepolitik und regionaler Kooperation zu weichen. Angesichts der riesigen, dringlichen Herausforderungen, die sich der Politik flächendeckend und gleichzeitig stellen, bleibt den Verantwortungstragenden auch kaum eine andere Wahl als beherzt zu handeln, anstatt die Hoffnung in Marktlösungen zu setzen. Alles andere wäre politischer Selbstmord.

Und: Die neue Art der Wirtschaftspolitik funktioniert. Zwar sind die gefundenen Lösungen nicht perfekt und angesichts der grossen Krisen oft zu zaghaft und zu spät. Aber dennoch ist anzuerkennen, dass die Wirtschaft dank massiver öffentlicher Investitionen einigermassen unbeschadet durch die Pandemie gekommen ist, dass der Stromverbrauch in Europa nach Ausbruch des Krieges massiv reduziert und eine Stromknappheit dadurch wohl verhindert werden konnte oder dass die Staatengemeinschaft sich in seltener Einigkeit gegen Russlands illegalen Krieg gestellt hat.

Die Art, in der 2022 von den meisten Demokratien Wirtschafts- und Aussenpolitik gemacht wurde, ist also tatsächlich neuartig und könnte eine neue Praxis begründen. Die Politik ist handlungsfähig, wenn sie muss. Und das heisst: Sie ist auch handlungsfähig, wenn sie will. «Die Rückkehr der Politik», nennt es die «Republik»-Journalistin Olivia Kühni.

Was bedeutet das für die Schweiz? Zwar ist diese Tendenz auch an unserem Land nicht gänzlich vorbeigegangen: Milliarden von Franken an Corona-Hilfsgeldern oder im Rahmen des Gegenvorschlags zur Gletscherinitiative für öffentliche Investitionen in den Heizungsersatz und den Ausbau der erneuerbaren Energien wurden beschlossen. Dennoch dürfte die Rückkehr der Politik die Schweiz, die die Absenz eben dieser durch ihr Offshore-Modell, ihre aussenpolitische Passivität und einen extrem liberalen Arbeitsmarkt in den letzten Jahrzehnten perfektioniert hat, vor besondere Herausforderungen stellen. Wenn die EU beim Klimaschutz mit einer eigenständigen Industriepolitik, in der Aussen- und Sicherheitspolitik sowie in der Sozialpolitik stärker zusammenrückt, dürfte ein Abseitsstehen der Schweiz noch mehr zum Problem werden. Und wenn Wertschöpfungsketten sich regionalisieren und wichtige wirtschaftliche Entscheidungen in regionalen politischen Gremien gefällt werden, ist die Schweiz nicht vorbereitet. Lösungen für diese Veränderungen durchzusetzen und unser Land fit für die Zukunft zu machen, wird eine vordringliche Aufgabe der SP sein. Denn die Antworten für den Modellwechsel, wie ihn Lenglet nennt, sind Teil der sozialdemokratischen DNA.

In der Schweiz der Zukunft muss die Grundversorgung in öffentlicher Hand sein, damit sie der ganzen Bevölkerung, unabhängig von Einkommen, Geschlecht oder Herkunft zur Verfügung steht. Insbesondere in den Bereichen ausserfamiliärer Kinderbetreuung, Gesundheitsversorgung und erneuerbarer Stromproduktion sind wir massiv im Rückstand. Die Schweiz muss es anderen gleichtun und über massive öffentliche Investitionen eine Industriepolitik betreiben, die die Versorgungssicherheit stärkt und gute Arbeitsplätze in der Schweiz schafft. Sie muss in die Stärken unseres Landes investieren, in Bildung, Innovation, eine hohe Lebensqualität und die zentrale Lage, anstatt ihre Hoffnung in einen trägen Markt zu setzen. Dafür muss sie näher an die EU heranrücken und sich an gemeinsamen Lösungen für unseren Kontinent beteiligen. Eine zukunftsfähige Wirtschaft muss sich an solidarischen, ökologischen und demokratischen Massstäben orientieren. Um Menschenleben, Lebensqualität und Wohlstand in Zukunft besser zu schützen, braucht es eine dauerhafte Stärkung der Werte, die aktuelle Konjunktur haben: Solidarität, kollektives Handeln und Kooperation. Ich befürchte: Auch 2023 wird sehr viel passieren und sich vieles ändern. Es ist an uns, diese Veränderungen positiv zu gestalten. Es guäts Nois!

Dieser Beitrag erschien in einer gekürzten Version zuerst im «sprachrohr», dem Publiktationsorgan der SP Illnau-Effretikon/Lindau.