Wilde 20er
Der Neujahrskater dauerte bei mir dieses Jahr etwas länger. Beziehungsweise er begann am Morgen des 4. Januar erneut, als ich von der Ermordung des iranischen Generals Soleimani erfuhr. Ein weiterer Eskalationsschritt im kalten Krieg zwischen dem Iran und den USA. Und ein massiver Bruch des Völkerrechts – einer mehr. Und mittendrin die Schweiz, mit ihren Schutzmachtmandaten. Ich dachte an den armen Botschaftsmitarbeiter, der über die Festtage die Stellung in Teheran hielt und mitten in der Nacht im iranischen Aussenministerium antraben musste. Wissend, dass er die empfangene Protestnote sofort nach Washington melden muss. Unkommentiert. Obwohl es dazu einiges zu sagen gäbe. Wenn Grossmächte ungestraft Menschen – egal wen – umbringen können, ist das beängstigend. Jamal Khashoggi und seine Mörder in Saudi-Arabien lassen grüssen. Und wenn eine Regierung dieses Verbrechen dann auch noch offiziell und stolz verkündet, wird einem der äusserst schmale Grat der Zivilisation in der Moderne gleich zu Beginn des neuen Jahrzehnts um die Ohren gehauen.
«Das neue Jahr hat begonnen, unsere Welt ist in Aufruhr.» António Guterres begann seine Neujahrsansprache mit dramatischen Worten und zählte mit obiger Eskalation, einem brennenden Australien und dem grassierenden Nationalismus die mehr werdenden Krisenherde unserer Zeit auf. Es scheint, als hätte auch der Uno-Generalsekretär einen verlängerten Neujahrskater. Was soll man anfangen, mit einem solchen Rutsch ins neue Jahr? Man könnte leicht verzweifeln oder resignieren. Und trotzdem freue ich mich aufs neue Jahrzehnt. Obwohl ich 30 werde.
Wie stehen zu Beginn eines neuen Jahrzehnts, an dessen Anfang sich die überwältigende Mehrheit der Menschen einig ist, dass es so nicht weitergehen kann. Dass es Veränderung braucht. Und dass darum irgendwie alles offen ist. «Ich halte es für eine zentrale politische Aufgabe, nicht zu verzweifeln», sagte die Geschlechterforscherin Franziska Schutzbach zum Jahreswechsel in einem Interview. Und daran sollten wir uns halten. Wie es weitergeht, hängt von unserem Handeln ab. Das letzte Jahr, mit einer enormen Mobilisierung für Klimagerechtigkeit und Feminismus haben gezeigt, dass wir den organisierten Wahnsinn auch umorganisieren können. Dass der Mensch zwar zur Verdrängung und Vertagung neigt. Aber wenn es dringend ist, reissen wir uns zusammen und finden neue Wege. Und das, je länger je mehr global. Wo die Krise ist, ist die Hoffnung auch. Oder so. Und das ist ein guter Grund, nicht zu verzweifeln. Ja, die 2020er werden wild. Die Welt ist in Aufruhr. Ein guter Moment, um neu anzufangen und einen linken Aufbruch zu wagen. Es guets Nois!
«Rote Gedanken», erschienen am 10. Januar im «P.S.»