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Doppelmoral

«Wir sind nicht alle: Der globale Süden und die Ignoranz des Westens» lautet der Titel des Buches von Johannes Plagemann und Henrik Meihack über die zunehmende Entfremdung des sogenannten Westens mit dem globalen Süden. Klug eingeordnet und empirisch belegt führen sie aus, weshalb die Perspektiven und Interessen zwischen jenen Staaten, die sich immer noch als Nabel der Welt verstehen, und den aufstrebenden Nationen mehr und mehr auseinanderklaffen. Das Buch beginnt beim Unverständnis Europas über die Zurückhaltung vieler in Afrika, Asien und Lateinamerika über den fürchterlichen russischen Angriffskrieg auf die Ukraine. Während Putins Invasion für uns Europäer:innen eine «Zeitenwende» markiert, ist sie im globalen Süden vielmehr die Fortsetzung eines neuen Imperialismus, der nun auch die Alte Welt erreicht hat. Plagemann und Meihack kommen dabei rasch auf den Elefanten im Raum zu sprechen: das Erbe des Kolonialismus. Während Kolonialismus und Imperialismus mit ihrer Gewalt, Versklavung, Entwurzelung, Ausbeutung und Fremdbestimmung für die Staaten im reichen Norden eine unrühmliche Epoche aus weit vergangener Zeit darstellen, sind ihre unmittelbaren Folgen für die ehemaligen Kolonien bis heute im Alltag spürbar oder setzen sich über Hunger und Armut nach wie vor fort. Und während in Europa die neuere Zeitrechnung mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges beginnt – als Sieg der Demokratie über den Faschismus –, so ist dieser in vielen Ecken der Welt bloss einer von vielen Kriegen um Ressourcen und Vormachtstellung von westlichen Kolonialherren.

Ich musste oft an dieses Buch denken, als ich letzte Woche am Rat der Progressiven Allianz in Rio de Janeiro teilnahm. An der Konferenz von sozialdemokratischen, sozialistischen und progressiven Parteien aus aller Welt dominierten zwei Themen alles: Erstens die neue autoritäre Welle, die seit 2020 in Afrika zu sieben erfolgreichen Militärputschen geführt hat und auch auf allen anderen Kontinenten die Demokratien bedroht, nicht zuletzt in den USA. Und zweitens der fürchterliche Krieg in Gaza. Das Unverständnis des Westens über die zurückhaltende Kritik an Israel angesichts der eklatanten Völkerrechtsbrüche ist enorm. Sie wird als Doppelmoral wahrgenommen.

Brasilien ist dieses Jahr Gastgeber der G20 und nächstes Jahr der COP25. Dies ist auch Ausdruck des ambitionierten aussenpolitischen Programms der Regierung Lula. Als Führungsmacht des globalen Südens will er den realexistierenden Multilateralismus reformieren und inklusiver gestalten. Und er will einen entscheidenden Beitrag zum weltweiten Klimaschutz leisten. So hat er seit Amtsantritt die Regenwaldabholzung bereits um 50 Prozent reduziert.

Angesichts der enormen Herausforderungen unserer Zeit würde die Schweiz gut daran tun, die legitimen Forderungen und Erfolge aus dem globalen Süden aktiv zu unterstützen und nach Europa zu tragen. Weitere Jahre der Ignoranz des Westens können wir uns schlicht nicht mehr leisten.

Dieser Beitrag erschien am 28.03.2024 zuerst im «P.S.».

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