Eigenverantwortung
In meinen Teenager-Zeit gab es diesen Trend der Rubrik «Was ich mag, was ich nicht mag». Da erfuhr man von Cervelat-Promis auf ihren nagelneuen Internetseiten, dass sie «Sommerregen» oder «Waldspaziergänge» mögen und «Koriander» oder «Stress» nicht so. Wie bei jedem Trend, wurde auch dieser von «normalen» Leuten übernommen. Und ich erinnere mich, dass ich für eine Juso-Website in dieser Rubrik schrieb: «Was ich nicht mag: Eigenverantwortung.»
Das fiel mir ein, als das Wort neuerdings wieder in Mode kam. Und mir fiel auch ein, dass ich Eigenverantwortung immer noch nicht mag. Einerseits weil sie nicht funktioniert. Andererseits weil ich sie für eine moralische Zumutung halte.
Ich war in den letzten Wochen oft im Zug zwischen Zürich und Bern unterwegs. Ohne Maske. Von der Masken tragenden Minderheit wurde man dabei so misstrauisch beäugt wie die Maskentragenden von den Maskenlosen. Und man verhielt sich entweder verantwortungslos oder lächerlich, je nach dem. Seit dieser Woche trage ich eine Maske. Wie 99 Prozent aller Pendlerinnen und Pendler. Weil ich muss. Und es ist gar nicht so schlimm.
Man stelle sich vor, man würde jetzt zum Beispiel Schweizer Konzerne zwingen im Ausland Menschenrechte und Umweltstandards einzuhalten. Plötzlich würden das 99 Prozent der Firmen tun. Weil die Spielregeln klar sind.
Ich glaube, «Verantwortung» und «Eigen» passen nicht zusammen. Weil Verantwortung notwendigerweise die Anderen und die Gesellschaft miteinbezieht. Wenn ich nur für mich schaue, übernehme ich ja genau keine Verantwortung. Eigenverantwortung ist eigentlich einfach ein Euphemismus für Egoismus. Und ein Egoist versucht bestenfalls gut dazustehen, aber eben nicht gut zu sein.
Ich bin auch dagegen, dass man Verantwortung abschiebt auf das Individuum. Okay, wenn ich ein T-Shirt kaufe, bin ich ein Bizeli zuständig, wenn es mit Kinderarbeit hergestellt wurde und ich nicht gefragt habe. Aber warum muss ich das überhaupt fragen? Das ist doch die eigentliche Frechheit. Ich bin gegen Kinderarbeit. Ich bin auch gegen Umweltzerstörung. Ein für allemal. Und ich will das nicht immer wieder sagen und mich informieren müssen. Das ist doch eine Selbstverständlichkeit. Ich will diese Verantwortung nicht. Kein Konsument will sie! Ich will einen Staat, der jede Firma bestraft, die etwas macht, dass unserer demokratischen Grundordnung zuwider läuft. Und da ist dann wieder unsere Verantwortung als Bürgerinnen und Bürger: Dass wir dafür sorgen, dass unser Land Menschenrechte schützt, niemanden alleine lässt, die Umwelt schützt, das Miteinander fördert. Und gopf nomal, das hat jetzt einfach gar nichts mit Eigenverantwortung zu tun! Sondern mit Solidarität.
«Rote Gedanken», erschienen am 10. Juli 2020 im «P.S.»