Gefangen im Elend von Moria
Chaos, Gewalt, Hoffnungslosigkeit: Ein Besuch auf Lesbos im grössten Flüchtlingslager Europas.
Als Pandora verbotenerweise die Büchse öffnete, die Zeus ihr anvertraut hatte, entwichen daraus Übel, Mühe und Krankheiten. Pandora versuchte sie wieder einzufangen. Vergeblich. Seither treiben sie ihr Unwesen auf der Welt. Und wenn man vor den Toren des Flüchtlingslagers Moria steht, könnte man meinen, sie seien nicht weit gekommen, sondern in Griechenland, am Ursprungsort des Pandora-Mythos, besonders aktiv.
Auf Lesbos ist es wärmer als in Zürich. Doch die Nächte sind bereits eisig kalt, als ich Mitte November die griechische Insel besuche. Das Flüchtlingslager Moria, rund zehn Autominuten von der Insel-Hauptstadt Mytilini entfernt, wurde ursprünglich für 1800 Menschen errichtet und sukzessive für 3500 Menschen erweitert. Heute leben im Camp gemäss offiziellen Zahlen rund 8000 Flüchtlinge. In Tat und Wahrheit dürften es aber noch weit mehr sein. Längst hat man den Überblick verloren, denn Moria ist ein einziges Chaos.
Die Menschen, die hier leben, versuchen jeden Tag, sich mit diesem Chaos zu arrangieren. Sie stehen vor Sonnenaufgang für mehrere Stunden an, um ihr Frühstück zu bekommen. Frauen gehen zu Fuss zwei Stunden nach Mytilini, um von freiwilligen HelferInnen Damenbinden zu erhalten. Wer kalt hat, versucht irgendwie Winterkleider aufzutreiben. Doch das Taschengeld von 90 Euro im Monat reicht dafür nirgendwo hin. Tagsüber schlägt man irgendwie die Zeit tot, sobald es dunkel wird, suchen die Menschen Zuflucht im Zelt oder im überfüllten Container. Wer auf die Toilette muss, sollte nicht alleine hingehen. Häufig kommt es im Flüchtlingslager zu Übergriffen und Vergewaltigungen. «Hier leben Menschen», sagt ein Camp-Bewohner, «aber sie werden gehalten wie Tiere. Und deshalb verhalten sie sich auch so. Es gilt das Recht des Stärkeren.»
Unhaltbare Zustände für Kinder
Die Menschenrechtsverletzungen in Moria sind schwerwiegend, stellte die Menschenrechtskommissarin des Europarats, Dunja Mijatović, Anfang November fest. «Die Kommissarin ist (…) zutiefst besorgt über die Situation der meisten unbegleiteten Migrantenkinder, die nicht ausreichend geschützt sind und beim Zugang zu sozialer Unterstützung auf ernsthafte Schwierigkeiten stossen», heisst es in ihrem Bericht. Besonders massiv werden das Recht auf Bildung und das Recht auf Gesundheit verletzt.
Insgesamt leben in Moria fast 2000 Kinder, davon sind 353 als unbegleitete Minderjährige und somit als besonders verletzlich registriert. Nur 130 von ihnen leben in einem separaten, bewachten und «komfortableren» Trakt des Lagers. Der Rest im offenen Teil des Camps – ohne spezielle Betreuung. Verschiedene NGOs und das Kinderhilfswerk Unicef betreiben Schulen. Einige Kinder dürfen am Unterricht in einer griechischen Schulklasse teilnehmen. Aber die Wartelisten sind lang, und die grosse Mehrheit der Migrantenkinder wird auf Lesbos niemals eine Lehrperson sehen.
Auch die Gesundheitsversorgung im Camp ist katastrophal. Spital und ÄrztInnen auf Lesbos sind vorwiegend auf die rund 80’000 griechischen InselbewohnerInnen ausgerichtet. Dazu kommt (meist freiwilliges) medizinisches Personal verschiedener Hilfsorganisationen. Aber die Ressourcen sind viel zu knapp. Insbesondere weil viele Geflüchtete schwer traumatisiert sind. Suizide, Panikattacken, bipolare Störungen sind häufig. Aber in Moria fehlen PsychologInnen und Medikamente, um die Leute zu behandeln. «Ich war vorher im kriegsversehrten Kongo», sagt die Koordinatorin einer Hilfsorganisation, «doch was ich hier sehe, schockiert mich.»
Der EU-Flüchtlingsdeal verschlimmert die Situation
Seit dem EU-Flüchtlingsdeal mit der Türkei Anfang 2016 kommen zwar weniger Flüchtlinge nach Lesbos, dennoch landet im Durchschnitt jeden Tag ein Boot an der Küste. Obwohl die türkische und griechische Küstenwache sowie Frontex sichtbar patrouillieren. Rund um die Uhr beobachten Freiwillige das Meer. Sie alarmieren die Küstenwache oder rücken selber aus, um die in kleinen Booten zusammengepferchten Menschen vor dem Ertrinken zu retten. Nicht selten kommt die Hilfe zu spät.
Wie viele Menschen in diesem Jahr zwischen der Türkei und der in Sichtweite liegenden Insel Lesbos ertrunken sind, kann niemand genau beziffern. Gemäss der Internationalen Organisation für Migration (IOM) sind es 65, über 160 in der Ägäis und 2054 im gesamten Mittelmeerraum. Viele weitere wurden nie rapportiert und sind daher auch in keiner Statistik ersichtlich.
Im Flüchtlingsdeal mit der EU hat sich Ankara verpflichtet, syrische Flüchtlinge an der Weiterreise in die EU zu hindern und sich um sie zu kümmern. Im Gegenzug erhält die Türkei Milliarden von der EU. Doch seit das Abkommen in Kraft ist, hat sich die Situation für die Menschen auf der Flucht massiv verschlechtert. Rund 3,5 Millionen geflüchtete Menschen sitzen in der Türkei fest. Nur ein Bruchteil von ihnen ist registriert und hat zumindest ein Dach über dem Kopf. Die Mehrheit der Geflüchteten schlägt sich irgendwie in Städten und Dörfern durch. Viele sind gezwungen, zu betteln, ihre Körper zu verkaufen oder zu stehlen. Vom EU-Geld sehen sie nichts. Da sie in der Türkei keinen Asylantrag stellen können oder wollen (die Türkei ist selber keineswegs sicher) und Flughäfen und Bahnhöfe gesperrt sind, bleibt ihnen nur ein Weg: die gefährliche Überfahrt übers Meer oder den Fluss Mariza nach Griechenland.
Griechenland ist das Tor zu Asien, das wusste schon Alexander der Grosse. Nur Europa scheint es vergessen zu haben. Und nur Europas Rechtsnationalisten scheinen zu glauben, es gäbe jemals genügend Zäune, Mauern und Kanonen-Boote, um die Grenzen wirklich dicht zu machen. Ein Blick auf die Karte der Ägäis genügt, um zu erkennen, dass dies unmöglich ist.
Abschrecken, verdrängen, abschotten
«Seenotrettung: Oder soll man es lassen?» Mit diesem Titel provozierte die deutsche Wochenzeitung «Zeit» im Juli 2018. Dieser ungeheuerlichen Frage liegt eine simple Logik zugrunde: Wenn wir Geflüchtete retten, wenn wir ihnen helfen, wenn wir ihnen menschenwürdige Bedingungen bieten, werden noch mehr von ihnen kommen. Wir müssen sie abschrecken. Dann kommen sie auch nicht mehr übers Mittelmeer.
Um es kurz zu sagen: Diese These ist purer Unsinn. Kein Mensch will mehrere Monate oder Jahre in Moria leben. Die Migranten wissen, was sie erwartet. Aber sie kommen trotzdem, weil es immer noch besser ist als dort, von wo sie kommen. Wer glaubt, man könne abschrecken, ist ein geschichtsvergessener Träumer.
Die alten Griechen, die einst auf Lesbos lebten, waren nicht nur Erfinder der Demokratie. Sie waren auch meisterlich darin, den Kopf in den Sand zu stecken vor den Widersprüchen ihrer Polis. Demokratie und Gleichheit auf der einen Seite, Sklaverei und Ausbeutung auf der anderen Seite. Der Reichtum und der Erfolg der ersten Griechen wäre ohne Sklaven niemals möglich gewesen, deshalb verdrängten sie den inneren Widerspruch ihres Systems. Auch der Reichtum und Erfolg Europas beruht zu einem grossen Teil auf Ausbeutung. Und auch wir verdrängen das nur allzu gerne. Die «modernen Sklaven» wurden externalisiert in den globalen Süden. Und damit wir weiterhin verdrängen können, dürfen die Verlierer des globalen Kapitalismus auf keinen Fall hierherkommen.
Forderungen an die Politik
Moria lässt mich hilflos zurück. Natürlich bin ich all den ehrenamtlichen und professionellen HelferInnen auf Lesbos und anderswo unendlich dankbar für ihre Arbeit. Ohne sie wäre die Situation der Geflüchteten noch viel schlimmer. Natürlich muss die Politik dafür sorgen, dass mehr Menschen aus Moria wegkommen. Die Schweiz müsste wie vor 2017 schutzbedürftige Personen über ein Relocation-Programm aufnehmen und so Griechenland entlasten. Es braucht humanitäre Unterstützung, und es braucht sichere Fluchtwege. Aber die Ursache dieses gewaltigen Elends ist so unendlich gross, dass dies alles nur Schadensbegrenzung ist. Ohne fundamentalen Kurswechsel in der europäischen Wirtschafts- und Migrationspolitik bleibt die Büchse der Pandora auch weiterhin geöffnet.
Auf Einladung der Schweizer NGO «One Happy Family» besuchte ich Mitte November das Flüchtlingslager Moria auf der Insel Lesbos. Der Beitrag erschien am 19. November bei infosperber.ch.