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Integraler Multilateralismus statt Blockbildung: eine neue Aufgabe für die Schweiz

Seit Ausbruch des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine gehen die Wogen im Streit über Sinn und Unsinn der Schweizer Neutralität hoch. Der Krieg in Europa hat eine neue Debatte über die Ausrichtung der helvetischen Sicherheits- und Aussenpolitik ausgelöst. Rechtsnationalistische Kreise wollen eine «integrale Neutralität» in der Bundesverfassung verankern. Dies würde der Schweiz aussenpolitisch jeglichen Spielraum nehmen, dafür aber das Offshore-Modell Schweiz, bei dem Banken und Rohstoffkonzerne ohne mühsame politische Diskussionen schrankenlos Geschäfte mit Kleptokratien und Oligarchen treiben, verfassungsmässig absichern. Das VBS, gewisse Think Tanks und die Grünliberalen wollen hingegen eine Hinwendung zur NATO forcieren und damit die Bündnisfreiheit der Schweiz de facto aufgeben. Beiden Positionen ist gemein, dass sie mit einer massiven Aufrüstung der Schweizer Armee und einer Schwächung der friedenspolitischen Rolle der Schweiz verbunden sind.

Während die Schweiz innenpolitisch um ihre aussenpolitische Identität ringt, verändert sich die Welt gerade fundamental. Die geopolitischen Spannungen nehmen zu, die Weltkarte wird wieder nach Einflusszonen geordnet, die Uno ist in einer Krise. Die Staatschefs der BRICS-Staaten Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika trafen sich – ohne Putin, gegen den vom Internationalen Strafgerichtshof wegen Kriegsverbrechen ein Haftbefehl erlassen wurde – vom 22.-24. August in Johannesburg zu ihrem seit der Gründung 2009 wichtigsten Gipfel. Sie beschlossen, die Zusammenarbeit im Wirtschafts- und Finanzbereich zu vertiefen. Der brasilianische Präsident Lula lancierte die Idee einer BRICS-Währung als Gegengewicht zum US-Dollar neu. Die BRICS-Bank soll weiter ausgebaut werden und Kredite an Länder im Globalen Süden vergeben. Und: Man einigte sich darauf, Iran, Saudi-Arabien, die Vereinigten Arabischen Emirate, Ägypten, Äthiopien und Argentinien ab 2024 als vollwertige Mitglieder in die Allianz aufzunehmen. Bereits heute leben 41 Prozent der Weltbevölkerung in BRICS-Staaten, welche 26 Prozent der Weltwirtschaft ausmachen. Mit der Aufnahme der sechs neuen Mitglieder nimmt ihre Bedeutung weiter zu. Zum Vergleich: Europa wird von 9,8 Prozent der Weltbevölkerung bewohnt und ist für knapp 15 Prozent (EU-27) des weltweiten BIP verantwortlich. 

Blockbildung oder integraler Multilateralismus?

Während China und Russland die BRICS insbesondere als Plattform verstehen, um ihre Einflusszonen auszubauen und Unterstützung gegen den Westen, allen voran die USA, zu mobilisieren, sehen Brasilien, Südafrika und Indien die BRICS auch als Speerspitze des Globalen Südens, um ungerechte Strukturen und Regeln des real-existierenden Multilateralismus zu beseitigen. Oder kurz: China und Russland setzen der Hegemonie der USA (unipolare Weltordnung) eine multipolare Weltordnung entgegen. Die drei BIS-Staaten wollen die Rolle der USA ebenfalls schwächen, aber daraus eine gerechtere multilaterale Weltordnung schaffen.

Mit ihrer Kritik an bestehenden Fehlkonstruktionen des Uno-Systems, der Bretton-Woods-Institutionen (Weltbank, IWF) und der Welthandelsregeln haben die Länder des Globalen Südens mehr als nur ein gutes Argument auf ihrer Seite: Die WTO-Regeln bevorteilen reiche, verarbeitende gegenüber ärmeren, produzierenden Volkswirtschaften immer noch strukturell. Konkret etwa, weil sich lokale Märkte auf Grund der Marktmacht grosser Konzerne nicht entwickeln oder diversifizieren können. Die laufende, sich verschärfende Schuldenkrise als langfristiges Erbe des europäischen und US-amerikanischen Kolonialismus stellt eine Mega-Investitionsbremse dar und verstärkt Armut und Hunger weltweit. Die Kredit-Politik von Weltbank und IWF hat sich zwar in den letzten Jahren gewandelt, aber benachteiligt die ohnehin schon verschuldeten Staaten des Globalen Südens weiter und zwingt ihnen zum Teil schmerzhafte Liberalisierungsprogramme auf. Der Rohstofffluch, an dem nicht zuletzt Schweizer Konzerne massgeblich beteiligt sind, führt zu Umweltzerstörung und Armut in an Rohstoffen reichen Ländern. Die Länder des Nordens haben ihr Versprechen unter dem Pariser Klimaabkommen, die Entwicklungsländer beim Klimaschutz angemessen zu unterstützen, nach wie vor nicht einmal annähernd umgesetzt. Zahlreiche Kriege und bewaffnete Konflikte der letzten 20 Jahre wurden durch westliche Interessen angeheizt. Und relevante Fragen, wie die internationale Steuer- oder die Handelspolitik, machen die reichen Staaten des Nordens unter sich und ausserhalb der Uno aus. Kurz: In den Ländern des Globalen Südens, nicht nur bei den Regierenden, ist das Gefühl ungerechter globaler Regeln mehr als nur ein Gefühl, weshalb die Skepsis gegenüber dem Westen wächst. 

Das haben auch die G7 (USA, Japan, Vereinigtes Königreich, Kanada, Italien, Deutschland, Frankreich) an ihrem letzten Gipfel in Elmau (D) bemerkt. Unter dem Vorsitz Deutschlands verabschiedeten sie eine Abschiedserklärung, in der explizit die Bedeutung des Globalen Südens unterstrichen und die Wichtigkeit einer engeren Zusammenarbeit hervorgehoben wurde. Zusätzliches Geld soll im Kampf gegen den Hunger bereitgestellt, die Entwicklungszusammenarbeit insgesamt ausgebaut und in der Klimapolitik stärker mit Entwicklungsländern kooperiert werden. Das ist alles richtig und wichtig: Der russische und chinesische Einfluss in Afrika muss zurückgedrängt werden. Ob das reichen wird, um verlorenes Vertrauen zurückzugewinnen, ist aber mehr als fraglich. 

Autoritarismus bekämpfen, aber berechtigte Kritik aufnehmen

Mit dem Beitritt Irans, Saudi-Arabiens und der Vereinigten Arabischen Emirate wird die Achse der autoritär regierten Staaten innerhalb der BRICS zweifellos gestärkt. Und dass anti-imperialistische Stimmen die Zusammenarbeit ausgerechnet mit Putins Russland stärken wollen, ist mehr als bedauerlich. Trotzdem müssen wir analysieren: Die BRICS sind gekommen, um zu bleiben. Sie werden wichtiger werden, in Teilen sind ihre Ziele legitim. Und sie sind weniger einig, als man meinen könnte. 

Und hier könnte unser Land ins Spiel kommen: Die Schweiz hat nicht nur langjährige Erfahrung bei Vermittlungen und der Organisation inklusiver, fairer Prozesse, sie ist auch weltweit anerkannt für ihre Bemühungen zur Reform der Uno. Die Schweiz wird, weil sie nie direkt in den Kolonialismus involviert war, positiver gesehen als viele andere westlichen Staaten. (Damit das so bleibt, muss die Schweiz ihren Finanzplatz endlich säubern, die Rohstoffkonzerne regulieren und die kolonialen Verstrickungen der Vergangenheit aufarbeiten.) Die Schweiz ist durch das Neutralitätsrecht zur Blockfreiheit verpflichtet, was ihr zusätzliche Glaubwürdigkeit bei vielen Staaten verschafft, welche die NATO ablehnen. 

Eine Konferenz gegen die Blockbildung

Die Stärkung der BRICS ist ein Weckruf, die dringend notwendigen Reformen der bestehenden Weltordnung voranzutreiben. Eine Reform des Uno-Systems, der Bretton-Woods-Institutionen und der WTO war nie so realistisch wie jetzt, wo sie so ernsthaft wie nie herausgefordert wurden. Alle Beteiligten haben ein Interesse daran, diesen Prozess jetzt anzugehen. Die Schweiz sollte ihre Aussenpolitik deshalb künftig darauf ausrichten, zwischen den Blöcken zu vermitteln und darauf hinarbeiten, dass es zu keiner weiteren Blockbildung kommt. Die Blockbildung birgt immer das Risiko der Eskalation in sich – und das kann nur über eine Stärkung internationaler, gemeinsamer und fairer Regeln verhindert werden. Grundlage für den Schweizer Beitrag müssen dabei die in Artikel 54 verankerten Ziele der Aussenpolitik sein: Linderung von Not und Armut, Achtung der Menschenrechte, Förderung der Demokratie und der Menschenrechte und Beitrag zum Frieden und dem Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen. Konkret braucht die Schweiz auf der einen Seite eine BRICS-Strategie, eine:n Sonderbotschafter:in und einen Plan, wie sie die berechtigten Forderungen der Staatengruppe nach einem integralen Multilateralismus unterstützen kann. Auf der anderen Seite muss sie ihre Beziehungen zu ihren europäischen Nachbarn verbessern und ihren Beitrag zur Verständigung zwischen Nord und Süd unterstreichen. Zu diesem Zweck sollte die Schweiz eine internationale Konferenz einberufen mit dem Ziel, diesen Prozess auf den Weg zu bringen. Denn eine weitere Blockbildung kann nur verhindert werden, wenn der bestehende Multilateralismus die Interessen des Globalen Südens ernst nimmt. Damit dieses Vorhaben gelingen und die Schweiz erfolgreich zur Entspannung der Situation beitragen kann, muss sie schliesslich die Politikkohärenz zwischen Aussen-, Aussenwirtschafts- und Sicherheitspolitik verbessern. Das heisst: Faire Handelsbeziehungen, klare Kante gegen Menschenrechtsverletzungen – und zwar bei allen Partnern, angemessener Beitrag zur internationalen Zusammenarbeit, glaubwürdige Bündnisfreiheit und aktive Friedenspolitik. 

Dieser Beitrag erschien am 01.09.2023 zuerst auf der Website der Schweizerischen Gesellschaft für Aussenpolitik (SGA).

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